Glück und Tragik eines Künstlerlebens

 

Lieselotte Tietjen, Frau des Generalintendanten Heinz Tietjen, über ihr Leben, ihren Mann und ihre Zeit in Berlin und Baden-Baden

 

Badisches Tagblatt, Kultur

Ausgabe vom 31. Dezember 2009

 

Liselot Tietjen

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Glück und Tragik eines Künstlerlebens


Liselot Tietjen, die 98-jährige Frau des Generalintendanten Heinz Tietjen über ihr Leben, ihren Mann und ihre Zeit in Berlin und Baden-Baden

Von Alexander Werner

Ihr Alter sieht man ihr nicht an, ihre Erinnerungen sind lebendig. Immerhin feierte Liselot Tietjen im Sommer in Baden-Baden ihren 98. Geburtstag. Die alte Dame ist noch immer eine gefragte Zeitzeugin, wenn es um ihren 1967 verstorbenen Mann Heinz geht. Tietjen hatte in der Weimarer Republik und im Dritten Reich eine steile Karriere gemacht und wurde zu einem der bedeutendsten Männer einer ganzen Epoche deutscher Musikgeschichte. Er leitete die Deutsche Oper ab 1925, dann die Berliner Staatsoper Unter den Linden, avancierte 1927 zum Generalintendanten aller preußischen Staatstheater und 1931 zum künstlerischen Leiter des Bayreuther Festspiele.


Über die Rolle ihres Mannes in der Nazi-Zeit spricht Liselot heute seltener. „Die ersten 20 Jahre nach dem Krieg wollte niemand etwas davon wissen. Plötzlich meldete sich jede Woche jemand bei mir. Es dauerte lange, bis man es wagte, das Thema offen aufzuarbeiten.“ Tietjen galt vielen früher vor allem als prominente Stütze der Nazis des Regimes. Tatsächlich aber betrieb er ein gefährliches Doppelspiel, half vielen Menschen und rettete Leben dank seines intelligenten politischen Taktierens. Auch den Widerstand unterstützte Tietjen. Seine Frau betont. „Mein Mann lebte nur für die Kunst und wehrte sich gegen den Einfluss der Nazis.“ Tietjen wurde in einem Entnazifizierungsverfahren 1947 völlig entlastet.


Liselot sah gerade im Willen ihres Mannes, sich gegen die Nazis zu wehren, einen Grund für sein Bleiben in Deutschland: „Er wollte seine Musiker und das Personal nicht im Stich lassen. Er hing zu sehr an seiner Oper.“ Und als Künstler habe Tietjen gelitten. „Eine Tragik, dass die Nazi-Zeit über uns hereinbrach, als er sich auf dem Höhepunkt befand, seine Ziele verwirklicht hatte und sich dazu sein größter Traum erfüllte, in Bayreuth am Pult zu stehen. Das war bitter für ihn.“ 


Liselot lernte ihren Mann als Solotänzerin in den 20er-Jahren an der Staatsoper kennen. Dort war sie auch Weggefährtin vieler großer Sänger und Dirigenten. Als sie sich 1946 das Ja-Wort gaben, währte ihre Beziehung schon ein Jahrzehnt. In „der schrecklichen Zeit“ wollten sie nicht heiraten. Dazu befand sich auch die Tänzerin auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Die beendete erst der Bombenhagel der letzten Phase des Kriegs.


Bei Kriegsende hatte das Paar alles verloren. Tietjen setzte seine Karriere schließlich 1948 als Intendant der Deutschen Oper fort. 1953 erhielt er das Große Verdienstkreuz. Liselot Tietjen hatte bereits während ihrer aktiven Zeit an eine Karriere als Opernsoubrette gedacht und Gesangsstunden genommen. Diesen Gedanken gab sie wieder auf, weil sie sich alleine in der Provinz ihre Sporen hätte verdienen müssen und sie ihre Stimme für eines der ersten Häuser letztlich nicht für groß genug hielt. Die Idee ihres Mannes, sie nach dem Krieg als unbezahlte Regieassistentin mitarbeiten zu lassen, scheiterte letztlich am Einspruch der Gewerkschaft. Liselot Tietjen bedauerte das. „Bei ihm habe ich viel gelernt. Ich empfand es als sehr spannend, wie er die Sänger aufbaute, ihnen ihre Rollen vermittelte. Wagner muss von einem Musiker inszeniert werden und singende Schauspieler müssen die Rollen ausfüllen. Einfach nur strahlend schön zu singen, wie man das heute so oft erlebt, bringt nichts.“


Doch Liselot Tietjen hatte genug von der Großstadt. Auch die vielen Enttäuschungen der Kriegsjahre in Berlin bewogen sie, eine neue Heimat zu suchen. Das beschaulich-idyllische Baden-Baden mit seinem internationalen Flair erschien ihr gerade richtig. Mitte der 50er-Jahre zog das Paar dorthin, um zur Ruhe zu kommen. Doch noch einmal ließ sich Tietjen 1957 überreden, eine Position anzunehmen, die Intendanz der Hamburgischen Staatsoper. Tietjens behielten in dieser Interimszeit ihre Wohnung in Baden-Baden und besuchten die Stadt oft. 1959 setzte sich Tietjen dort mit seiner Frau zur Ruhe und beschränkte sich auf Gastspiele.


Gerne denkt Liselot an die Eröffnung der neuen Oper in Trier 1964 zurück, bei der ihr Mann seine Inszenierung von „Ariadne auf Naxos“ dirigierte. In der Stadt, in der einst seine Karriere als erster Kapellmeister begann. Damit, so habe er gesagt, „hat sich der Ring geschlossen.“ 1967 starb Tietjen im Alter von 86 Jahren in Baden-Baden. Zwei Jahre kämpfte seine Frau mit dem Verlust. Ihre „herrliche Ehe“ war ihrem bewegten Künstlerleben geschuldet kinderlos geblieben.


Nun begann für sie eine neue Zeit. Baden-Baden zu verlassen, kam ihr nie in den Sinn. „Man fühlt sich wie auf einer Insel, etwas abgeschirmt von allem und doch kann man hier so viel machen.“ War zu Lebzeiten ihres Mannes Sport kein Thema, so tankte sie jetzt beim Golf neue Energie, fand Freunde und entdeckte mit ihnen wie geistvoll Bridge unterhält. Auch als sie vor 20 Jahren in eine schöne Altersresidenz umzog, blieb sie ungebrochen aktiv. Die Zeit der Ausflüge, auch ins Festspielhaus, bei dem sie von Beginn an engagiert im Freundeskreis mitwirkte, ist heute vorüber. Trotz guter Gesundheit fordert das Alter seinen Tribut. Doch sie genießt das Programm im Haus, die Konzerte und Vorträge „Man muss das Alter annehmen. Und wer hätte denn gedacht, dass ich so alt werde. Schon früher dachte ich zuweilen, es ist doch ein merkwürdiges Schicksal, dass ich Berlinerin hier in Baden-Baden mein Ende finden werde.“

 

Der Beitrag in erweiterter Länge (12 000 Zeichen)

Der Text folgt  Interview mit Liselot Tietjen, Witwe von Heinz Tietjen, des früheren Generalintendanten der preußischen Staatstheater in Berlin, vom 12. Juli 2009

Von Alexander Werner


Glück und Tragik eines Künstlerlebens


Die 98-jährige Intendantenwitwe Liselot Tietjen über ihr Leben, ihren Mann Heinz, Berlin und den Krieg

Ihr Alter sieht man ihr nicht an, ihre Erinnerungen sind erstaunlich frisch und lebendig. Im-merhin feierte die alten Dame im August 2009 ihren 98. Geburtstag. Seit Jahren besuchen die Berlinerin immer mal wieder Journalisten oder Musikwissenschaftler in ihrer Wahlheimat Baden-Baden. Denn Liselot Tietjen ist eine gefragte Zeitzeugin, wenn es um ihren 1967 ver-storbenen Mann Heinz Tietjen und das Musikgeschehen der 30er- und 40er-Jahre geht. Tiet-jen hatte in der Weimarer Republik und im Dritten Reich eine steile Karriere gemacht und wurde in seinem Fach zu einem der bedeutendsten und einflussreichsten Männer einer ganzen Epoche deutscher Musikgeschichte. Er leitete die Deutsche Oper ab 1925, dann die Berliner Staatsoper Unter den Linden, avancierte 1927 zum Generalintendanten aller preußischen Staatstheater und 1931 zum künstlerischen Leiter des Bayreuther Festspiele.


Liselot Tietjen ist noch gut auf den Beinen, eine energische Frau, nur ihr Gehör macht ihr etwas zu schaffen und ihre Ausflüge in die Stadt und ins Festspielhaus sind seltener gewor-den. Trotz guter Gesundheit fordert das Alter seinen Tribut. Über die Rolle ihres Mannes in der Nazi-Zeit spricht sie heute nur noch ungern. „Darüber habe ich alles gesagt. Die ersten 20 Jahre nach dem Krieg wollte niemand etwas davon wissen, bis plötzlich selbst aus Japan je-mand anreiste, um mit mir zu reden. Es hat lange gedauert, bis man es wagte, das Thema of-fen aufzuarbeiten.“
Tietjen galt vielen als prominente Stütze, gar als Steigbügelhalter der Nazis. Auch nachdem er in einem Entnazifizierungsverfahren 1947 völlig entlastet worden war, seine Karriere 1948 als Intendant der Deutschen Oper, als Leiter der Berliner Festwochen, und an der Hamburgischen Staatsoper fortsetzte und 1953 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland  erhielt, blieb er umstritten. Zu Unrecht, wie seine Frau immer wieder betonte. „Mein Mann lebte nur für die Kunst und wehrte sich gegen den Einfluss der Nazis. Über die Ansicht, jeder der hier geblieben sei, habe mitgemacht, ist man längst hinweg. Viele haben im Geheimen gekämpft.“ 


Tatsächlich erscheint Tietjen heute in einem anderen Licht. Offensichtlich betrieb er ein ge-fährliches Doppelspiel, half vielen Menschen und rettete Leben dank seines intelligenten poli-tischen Taktierens und geschickt kalkulierten Lavierens. Auch den Widerstand unterstützte er. Eine aufregende und furchtbare Zeit sei das gewesen, sagt seine Witwe. „Wir hatten einen Hinterausgang für den Fall, dass er abgeholt werden sollte. Er wagte alles, um Menschen zu helfen, zu retten und zu beschützen.“ Liselot Tietjen sah gerade im Willen ihres Mannes, sich gegen die Nazis zu wehren, einen Grund für sein Bleiben. Und als Künstler habe Tietjen gelit-ten. „Eine Tragik, dass die Nazi-Zeit über uns hereinbrach, als er sich auf dem Höhepunkt befand, seine Ziele verwirklicht hatte und sich dazu sein größter Traum erfüllte, in Bayreuth am Pult zu stehen. Das war bitter für ihn. Er war darüber todtraurig.“


Liselot Tietjen erinnert sich noch, wie eines Tages Erich Kleiber kam, der große Dirigent und als Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden enger und guter Kollege ihres Mannes. Kleiber wählte 1935 kompromisslos den Weg in die Emigration, als er das wahre Denken der Nationalsozialisten durchschaute. Er versuchte Tietjen noch zu bewegen, ihm nach Argentinien zu folgen, wo er bereits seit 1926 am berühmten Teatro Colón saisonal en-gagiert war. „Kleiber kam mit einem Angebot aus Buenos Aires, dort mit ihm eine Oper wie unsere Staatsoper aufzubauen“, erinnert sich Liselot Tietjen, „doch mein Mann wollte seine Musiker und das ganze Personal nicht im Stich lassen. Er hing zu sehr an seiner Oper. Kleiber verließ uns enttäuscht.“
Ihren Mann lernte Liselot Tietjen in den 20er-Jahren an der Staatsoper kennen, wo sie als So-lotänzerin engagiert war. Als sie sich endlich im Januar 1946 das Ja-Wort gaben, währte ihre Beziehung schon rund ein Jahrzehnt. „Wir wollten nicht in dieser schrecklichen Zeit heiraten und warteten bis zum Kriegsende.“ Dazu befand sich auch die Tänzerin auf dem künstleri-schen Höhepunkt. Erst der Bombenhagel der letzten Phase des Kriegs beendete ihre Karriere. „Eines Tages war Schluss, wir tanzten unser Ballett, hatten uns noch verbeugt und verab-schiedet, als Tietjen uns erklärte, dies sei unsere letzte Vorstellung.“


An der Staatsoper war Liselot Tietjen Weggefährtin vieler großer Künstler. Ihr Interesse an der Arbeit der Dirigenten war groß. Von Pultstars, so sagt sie, sei damals gar keine Rede ge-wesen. Ob Tietjen, Erich Kleiber oder Leo Blech, das seien einfach großartige Dirigenten gewesen, denen es nicht allein um den großen Abend und den Erfolg ging, sondern auch um die Arbeit mit dem Orchester. „Sie leisteten viel gemeinsam mit dem Orchester, weil sie es selbst erzogen. Das ist das Geheimnis eines großen Orchesters, seines Klangs und seines Spiels. Ein Dirigent erreicht nur, was er sich vorstellt, wenn das Orchester auf ihn eingeht. Das verstanden und wollten diese großen Dirigenten. Sie konnten so auch alles aus den Musi-kern herausholen und waren stolz auf sie. Heute ist das leider meist anders. Die Dirigenten fliegen irgendwohin, machen ein paar Proben und dann geht`s los – auf Kosten der Kunst.“


Auch dank gemeinsamer Gastspiele, auf denen sie Tietjen begleitete, lernte sie Erich Kleiber besser kennen. Bei diesen Reisen kamen sich Liselot Tietjen und Ruth Kleiber, die Mutter des später weltweit gefeierten Dirigenten Carlos Kleiber, nahe. Sie waren damals oft zusammen, wohnten im gleichen Hotel, bummelten durch die Städte, besuchten Museen und schauten sich oft gebannt gemeinsam die Proben und Aufführungen der beiden Dirigenten an. Erich Kleiber galt ihr viel als Mensch und Musiker. „So zurückhaltend, ja manchmal zurückweisend er manchmal wirkte, so war Kleiber doch immer überaus höflich und freundlich, ganz sicher ein sehr ordentlicher, netter und wohl auch warmherziger Mann. Mit seiner Frau führte er eine offenbar sehr glückliche und schöne Ehe.“ Nie jedenfalls hatte sie den Eindruck, Kleiber kön-ne ein herzloser, diktatorischer Mann sein, wie das später zuweilen kolportiert wurde, weder privat noch bei seiner Arbeit. „Mit dem Orchester war er gewiss sehr streng, sehr energisch, verlangte viel und ließ nichts durchgehen. Aber das war auch richtig so, und die Musiker nahmen das gerne an. Sie lernten dadurch viel und haben ihn sehr geschätzt.“


Konkurrenz oder gar Neid erkannte Liselot Tietjen zwischen Kleiber und Tietjen nicht. Auch die Liebe zu Richard Wagner und  Richard Strauss, mit dem beide eng befreundet waren, ver-band die Dirigenten. „In ihrem Wesen unterschieden sie sich gänzlich von Wilhelm Furt-wängler, der immer schwierig war, niemand neben sich haben wollte. Als Karajans als neuer Stern am Pult auftauchte, war ihm das nicht recht, während sich andere, schon wenn sie älter wurden, um Nachwuchs kümmerten. Furtwängler tat das nicht.“


Kleiber und Tietjen waren eher unpolitische Männer, denen die Kunst über alles ging. Und doch war es die Politik, die ihr Leben veränderte und ihre Wege trennte. Nach dem Krieg tra-fen sich wieder. Liselot und Heinz Tietjen hatten alles verloren, verlegten dann ihren Haupt-wohnsitz nach Baden-Baden, um in der Stadt etwas zur Ruhe zu kommen. Kleiber erholte sich gerne alleine oder mit seiner Frau Ruth im Schwarzwald als Gast des nahegelegen Schlosshotels Bühlerhöhe. Mal besuchten Tietjens die Kleibers im Hotel oder diese kamen nach Baden-Baden. Stets sprachen die beiden Männer über Kunst, Musik, nie über Politik oder Privates. Dass Kleiber auch eine Tochter hatte, wusste Liselot Tietjen bis heute nicht. Über ihren Sohn Carlos indessen erzählte Ruth Kleiber oft. Etwa dass ihr Mann zuerst gegen Carlos` Wunsch gewesen sei, Dirigent zu werden. Falls er nicht so gut würde wie er oder an-dere große Kollegen, hätte das ja gar keinen Zweck, habe er gesagt. „Sie aber wollte es ihrem Sohn ermöglich.“ Das aber sei ganz am Anfang gewesen, als Carlos noch sehr jung war. „Dass der Vater ihn später unterstützte, leuchtet ein.“


Tratsch, Intrigen und Gerüchte kümmerten Liselot Tietjen nie. Anhaltpunkte dafür, dass Car-los Kleiber womöglich nicht der Sohn Erichs, sondern der des Komponisten Alban Berg sein könnte, findet sie nicht. Bei der nebulösen Geschichte von einer angeblichen Affäre Bergs mit Ruth Kleiber, aus der womöglich Carlos hervorgegangen sein soll, schüttelt sie den Kopf. „Ich kann es mir nicht vorstellen. Ruth Kleiber liebte und lebte nur für ihren Mann.“ Über-rascht war Liselot Tietjen, als sie von Carlos in den späten 60er-Jahren einen Brief erhielt. Heinz Tietjen war 1967 im Alter von 86 Jahren in Baden-Baden gestorben und Carlos Kleiber bereitete sich an der Württembergischen Staatsoper auf seine erste Wagner-Aufführungen vor: „Tristan und Isolde“. „Carlos fragte mich, ob ich noch Partituren oder Klavierauszüge Wagners von Heinz besäße. Die hatte ich jedoch schon an die Akademie der Künste gegeben.  Er schrieb, er wolle dort wieder anknüpfen, dort weitermachen, wo sein Vater und Tietjen aufgehört haben. Das erstaunte mich sehr, da er ja selbst bereits ein bekannter Dirigent war.“


Liselot Tietjen hatte nach dem Krieg genug von der Großstadt, genug von den Enttäuschun-gen und all den Menschen, wollte raus aus Berlin. Das beschaulich-idyllische Baden-Baden mit seinem internationalen Flair und seinen idealen Verkehrsverbindungen erschien ihr da gerade richtig. Denn in einem Dorf, das wusste sie, hätte sich ihr Mann nicht wohlgefühlt. Doch bis sich Tietjen endgültig zur Ruhe setzte, war noch einiges zu tun. Liselot Tietjen hatte nach dem Krieg Gesangsstunden genommen, dachte an eine neue Karriere als leichte Opern-soubrette. Diesen Gedanken aber gab sie wieder auf, weil sie sich getrennt von ihrem Mann in der Provinz ihre Sporen hätte verdienen müssen und sie ihre Stimme zwar für gut, aber nicht als groß genug einschätzte, um später in einem der ersten Häuser singen zu können. Die Idee ihres Mannes, sie als unbezahlte Regieassistentin mitarbeiten zu lassen, scheiterte ebenfalls, letztlich am Einspruch der Gewerkschaft. Selbst wenn die Frau nichts verdiene, nähme sie ja jemand die Stelle weg, der dafür Geld bekäme. Liselot Tietjen bedauerte das. „Bei meinem Mann hatte ich viel gelernt. Ich empfand es als sehr spannend, ihm bei der Arbeit zuzuschau-en, auch wie er die Sänger aufbaute, ihnen ihre Rollen vermittelte, manchmal zwei Stunden nur an einer einzigen Arie feilte, ihnen alles beibrachte. Wagner muss von einem Musiker inszeniert werden und singende Schauspieler müssen die Rollen ausfüllen. Einfach runtersin-gen, wie man das heute so oft erlebt, bringt nichts.“


Nach Tietjens Tod kämpfte sie zwei Jahre lang mit dem Verlust. „Er war ein wunderbarer Mensch und wir führten eine herrliche Ehe.“ Dass diese ihrem bewegten Künstlerleben ge-schuldet kinderlos blieb, nahm die Frau hin. Nun begann für sie eine neue Zeit. Baden-Baden zu verlassen, kam ihr nie in den Sinn. „Es ist so wunderbar hier, man fühlt sich wie auf einer Insel, etwas abgeschirmt von allem und doch kann man hier so viel machen.“ War zu Lebzei-ten ihres recht unsportlichen Mannes Sport kein Thema, so tankte sie jetzt beim Golf neue
Energie, fand Freunde und entdeckte mit ihnen wie geistvoll Bridge unterhält und zudem das Gehirn trainiert. Auch als sie vor 20 Jahren ihre Wohnung aufgab und in eine noble Altersre-sidenz umzog, blieb sie ungebrochen aktiv. Die Zeit der Ausflüge, auch ins Festspielhaus, bei dem sie von Beginn an engagiert im Freundeskreis mitwirkte, ist vorbei. Stören tut sie das nicht. Jeden Tag gibt es im Haus ein neues Programm und sie genießt bis heute Konzerte und Vorträge „Man muss das Alter annehmen. Und wer hätte denn jemals gedacht, dass ich so alt werde. Schon früher dachte ich zuweilen, es ist doch ein merkwürdiges Schicksal, dass ich Berlinerin hier in Baden-Baden mein Ende finden werde.“

 

Alternativer Beitrag:

Eye-Shopping und zerstörte Träume

Liselott Tietjen erinnert sich an den großen Dirigenten Erich Kleiber, seine Frau Ruth und ihren Sohn Carlos Kleiber

Auch auf www.carlos-kleiber.de (open site)

 

Eye-Shopping und zerstörte Träume



Heinz Tietjens Witwe Liselot über ihren Mann und ihre Bekanntschaft mit den Kleibers

Jahrzehnte sind vergangen, seit Liselot Tietjen als Solotänzerin an der Berliner Staatsoper in Berlin engagiert war. Dort lernte sie in den 20er-Jahren nicht nur ihren späteren Mann Heinz Tietjen kennen, sondern auch Erich Kleiber, den Generalmusikdirektor der Staatsoper unter den Linden, und dessen Frau Ruth. Erstaunlich frisch und lebendig sind die Erinnerungen der alten Dame, die im August 2009 ihren 98. Geburtstag feiert. Erich Kleiber erlebte sie persönlich und bei der Arbeit nicht nur in Berlin, sondern auch bei Gastspielreisen, auf denen sie Heinz Tietjen begleitete. Tietjen leitete die Staatsoper ab 1926, wurde 1927 Generalintendant aller preußischen Staatstheater und 1931 künstlerischer Leiter des Bayreuther Festspiele. Gerade bei diesen Reisen kamen sich Liselot Tietjen und Ruth Kleiber, die Mutter des später weltweit gefeierten Dirigenten Carlos Kleiber, nahe. Sie waren damals oft zusammen, wohnten im gleichen Hotel, bummelten durch die Städte, besuchten Museen und schauten sich oft gebannt gemeinsam die Proben und Aufführungen der beiden Dirigenten an.


Von Pultstars, so sagt Liselot Tietjen, sei damals gar keine Rede gewesen. Ob Kleiber, Tietjen oder Leo Blech, das seien einfach großartige Dirigenten gewesen, denen es nicht allein um den großen Abend und den Erfolg ging, sondern auch um die Arbeit mit dem Orchester. „Sie leisteten viel gemeinsam mit dem Orchester, weil sie es selbst erzogen. Das ist das Geheimnis eines großen Orchesters, seines Klangs und seines Spiels. Ein Dirigent erreicht nur, was er sich vorstellt, wenn das Orchester auf ihn eingeht und auf ihn einwirkt. Das verstanden und wollten diese großen Dirigenten. Sie konnten so auch alles aus den Musikern herausholen und waren stolz auf sie. Heute ist das leider meist anders. Die Dirigenten fliegen irgendwohin, machen ein paar Proben und dann geht`s los – auf Kosten der Kunst.“


Das gute Verhältnis der beiden Männer, die sich gegenseitig sehr schätzten, förderte die persönlichen Kontakte. Konkurrenz oder gar Neid erkannte Liselot Tietjen zwischen ihnen nicht. Auch die Liebe zu Richard Wagner und  Richard Strauss, mit dem beide eng befreundet waren, verband Kleiber und Tietjen. „In ihrem Wesen unterschieden sie sich gänzlich von Wilhelm Furtwängler, der immer schwierig war, niemand neben sich haben wollte. Als Karajans als neuer Stern am Pult auftauchte, war ihm das nicht recht, während sich andere, schon wenn sie älter wurden, um Nachwuchs kümmerten. Furtwängler tat das nicht.“


Kleiber und Tietjen waren eher unpolitische Männer, die nur für die Kunst leben wollten. Und doch war es die Politik, die ihr Leben veränderte und ihre Wege trennte. Während Erich Kleiber kompromisslos in die Emigration ging, als er das wahre Denken der Nationalsozialisten durchschaute, blieb Tietjen in Berlin. Vergeblich versuchte Kleiber, Tietjen noch zu bewegen, ihm nach Argentinien zu folgen, wo er bereits seit 1926 am berühmten Teatro Colón saisonal engagiert war. „Kleiber kam mit einem Angebot aus Buenos Aires, dort mit ihm eine Oper wie unsere Staatsoper aufzubauen“, erinnert sich Liselot Tietjen, „doch mein Mann wollte seine Musiker und das ganze Personal nicht im Stich lassen. Er hing zu sehr an seiner Oper. Kleiber verließ uns enttäuscht.“


Wenngleich Tietjen, der bedeutendste Intendant und Regisseur einer ganzen Epoche deutscher Musikgeschichte, nach dem Krieg im einem Entnazifizierungsverfahren vollständig entlastet wurde, blieb seine Rolle im Dritten Reich umstritten. Einschätzungen, Tietjen sei zweifellos ein Steigbügelhalter der Nazis gewesen, sind aber nicht mehr haltbar. Vielmehr betrieb er offensichtlich ein gefährliches Doppelspiel, half vielen Menschen und rettete Leben dank seines intelligenten politischen Taktierens und geschickten Lavierens. Auch den Widerstand unterstützte er. Liselot Tietjen sah gerade im Willen ihres Mannes, sich gegen die Nazis zu wehren, einen Grund für sein Bleiben. „Wie viele damals im Geheimen gekämpft haben, wurde erst später bekannt. Für uns war es eine aufregende und furchtbare Zeit. Wir hatten einen Hinterausgang, für den Fall, dass man ihn abholen wollte.“  Als Künstler, so sagt sie, habe Tietjen in der Nazi-Zeit gelitten. „Eine Tragik, dass die gerade kam, als er sich auf dem Höhepunkt befand, seine Ziele verwirklicht hatte und sich dazu sein größter Traum erfüllte, in Bayreuth am Pult zu stehen. Das war bitter für ihn. Er war darüber todtraurig.“


Für den 1890 geborenen Erich Kleiber dagegen begannen nach eine eindrucksvollen Karriere 1935 ruhelose Wanderjahre. Seine Tragik bleibt, dass Krieg, Emigration, Intrigen und Ressentiments in Nachkriegsdeutschland und –österreich und sein früher Tod 1956 ihm die Erfüllung seiner Wünsche und einen wirklich angemessenen Nachruhm versagten. Kleiber und Tietjen trafen sich nach dem Krieg wieder. Liselot und Heinz Tietjen hatten mit ihrer Heirat bis nach dem Krieg gewartet und verlegten dann ihren Hauptwohnsitz nach Baden-Baden. Kleiber erholte sich gerne alleine oder mit seiner Frau Ruth im Schwarzwald als Gast des nahegelegen Schlosshotels Bühlerhöhe. Mal besuchten Tietjens die Kleibers im Hotel oder diese kamen nach Baden-Baden. Besonders in Erinnerung behielt Liselot Tietjen einen Besuch Kleibers, bei dem er mit ihrem Mann über die für 1955 geplante Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper sprach. Für den Wiener Kleiber, der in seinem geliebten Österreich immer mit Ressentiments zu kämpfen hatte und dort musikalisch nie Fuß fassen konnte, eine zutiefst deprimierende Erfahrung. Denn seine Hoffnungen, die Wiener Oper zu übernehmen, zerplatzten im Strudel der Wiener Intrigen.


In Baden-Baden sprachen die beiden Männer stets über Kunst, Musik, nie über Politik. Liselot Tietjen verwunderte es nicht, dass über Privates nicht geredet wurde. Schön früher hatte Kleiber sein Privatleben abgeschirmt und seine Emotionen verborgen. „In Baden-Baden wollte ich ihn einmal zum Bahnhof bringen. Das nahm er gerne an, nicht aber als ich herzlich von ihm Abschied nehmen wollte. ,Nein, nein, nein´, winkte er ab.  Abschied liebte er nicht. Mir schien, dass er sich gegen Gefühle wehrte, dass er niemanden nahe an sich heranlassen wollte.“ Liselot Tietjen vermutete, dies könne mit Kleibers schwieriger Jugend nach dem frühen Tod seiner Eltern zusammenhängen. „Doch so zurückhaltend, ja manchmal zurückweisend er manchmal wirkte, so war er doch immer überaus höflich und freundlich, ganz sicher ein sehr ordentlicher, netter und wohl auch warmherziger Mann. Ich weiß noch, dass er später in Ostberlin, wo er nach dem Krieg dirigierte, mit den Taschen voller Münzen am Heiligabend durch die Stadt lief und Geld an arme Menschen verschenkte.“ Nie jedenfalls hatte sie den Eindruck, Kleiber könne ein herzloser, diktatorischer Mann sein, wie das später zuweilen kolportiert wurde, weder privat noch bei seiner Arbeit. „Mit dem Orchester war er gewiss sehr streng, sehr energisch, verlangte viel und ließ nichts durchgehen. Aber das war auch richtig so, und die Musiker nahmen das gerne an. Sie lernten dadurch viel und haben ihn sehr geschätzt.“


Auch an emotionalen Tiefen seiner Ehe wollte Erich Kleiber die Öffentlichkeit und selbst gute Bekannte wie Tietjens nicht teilhaben lassen. Dennoch zweifelte Liselot Tietjen nicht am Familienglück. „Mir schien es eine sehr schöne Ehe zu sein. Ruth liebte ihn über alles, pflegte ihn aufopfernd, sorgte sich um ihn so sehr, dass es ihm manchmal etwas zu viel wurde. Sein Tod muss sie fürchterlich mitgenommen haben. Sie schickte mir damals einen Brief mit einem Foto ihres Mannes mit gefalteten Händen auf dem Totenbett.“
Dank der Gastspielreisen hatte Liselot Tietjen Ruth Kleiber gut kennengelernt. „ Sie war hübsch, immer sehr gut angezogen, ohne auf große Eleganz wert zu legen. Sie war überhaupt nicht eingebildet, eine sehr liebe, natürliche und in ihrer ganzen Art bescheidene Frau. Sie rief mich oft an morgens, wenn wir unterwegs waren und fragte: ,Wollen wir Eye-Shopping machen?´ Sie sah sich gern alles an, ohne etwas zu kaufen.“


Ihr Geld investierte Ruth Kleiber damals lieber in Reisen. Der Gesandte Günter Henle hatte Kleiber mit der gebürtigen Kalifornierin 1926 in Buenos Aires bekannt gemacht, wo sie als Angestellte der amerikanischen Botschaft arbeitete. Geheiratet wurde bald darauf in Berlin . Ruths Familie lebte in den USA, und wann immer es möglich war, reiste sie in ihre Heimat. „Wo ist denn Ihre Frau? Ich habe sie seit zwei Tagen nicht mehr gesehen.“, fragte Liselot Tietjen Kleiber einmal in Mailand. – Kleiber antwortete: „Sie ist schnell zu ihrem Zahnarzt nach New York geflogen.“ Ruth Kleiber liebte es zu fliegen, ganz im Gegensatz zu ihrem Mann, der lieber lange Dampferfahrten in Kauf nahm. „Als die neuen Jets aufkamen, musste sie das unbedingt sofort ausprobieren“, erinnert sich Liselot Tietjen. Sie flog furchtbar gern, selten mit ihm, meist voraus. Und Erich Kleiber hatte noch eine andere Sorge: „Wer würde sich um seinen Sohn kümmern, wenn die Eltern auf einem Flug abstürzen würden?


Dass Ruth ihren Zahnarztbesuch in den USA weder angekündigt noch später davon erzählt hat, erschien Liselot Tietjen zwar merkwürdig, doch auch Ruth konnte zuweilen verschlossen sein. Seltsam aber, dass Liselot Tietjen weder Erich noch Ruth Kleiber je mit ihrem Sohn Carlos oder der zwei Jahre älteren Tochter Veronika sah. Und noch merkwürdiger, dass sie von der Existenz der Tochter bis heute nichts wusste. „Von einer Tochter war nie die Rede, die Mutter sprach immer nur von ihrem Sohn ... immer nur der Sohn, der Sohn, der Sohn ...“ Dass die Eltern auch ihre Tochter innig liebten, davon zeugen Briefe Erich und Ruth Kleibers, doch der Sohn ging vor. „Carlos begegnete mir nie, nicht als Kind, als er wohl von Kindermädchen betreut wurde, und auch später nicht bei Besuchen seiner Eltern in Baden-Baden.“ Um so überraschter war die Frau, als sie von Carlos in den späten 60er-Jahren einen Brief erhielt. Heinz Tietjen war 1967 im Alter von 86 Jahren in Baden-Baden gestorben und Carlos Kleiber bereitete sich an der Württembergischen Staatsoper auf seine erste Wagner-Aufführungen vor: „Tristan und Isolde“. „Carlos war damals in Stuttgart engagiert und fragte mich, ob ich noch Partituren oder Klavierauszüge Wagners von Heinz besäße. Die hatte ich jedoch schon an die Akademie der Künste gegeben.  Er schrieb, er wolle dort wieder anknüpfen, dort weitermachen, wo sein Vater und Tietjen aufgehört haben. Das erstaunte mich sehr, da er ja selbst bereits ein bekannter Dirigent war.“
Zugleich freute sich Liselot Tietjen über die Wertschätzung des jungen Kleiber für ihren Mann. Ihr fiel wieder ein, wie Ruth Kleiber ihr erzählt hatte, dass ihr Mann zuerst gegen Carlos` Wunsch gewesen sei, Dirigent zu werden. Falls er nicht so gut würde wie er oder andere große Kollegen, hätte das ja gar keinen Zweck, habe er gesagt. „Sie aber wollte es ihrem Sohn ermöglich.“ Das aber sei ganz am Anfang gewesen, als Carlos noch sehr jung war. „Dass der Vater ihn später unterstützte, leuchtet ein.“


Tratsch, Intrigen und Gerüchte kümmerten Liselot Tietjen nie. Anhaltpunkte dafür, dass Carlos Kleiber womöglich nicht der Sohn Erichs, sondern der des Komponisten Alban Berg sein könnte, findet sie nicht. Bei der nebulösen Geschichte von einer angeblichen Affäre Bergs mit Ruth Kleiber, aus der womöglich Carlos hervorgegangen sein soll, schüttelt sie den Kopf. „Ich kann es mir nicht vorstellen. Ruth Kleiber liebte und lebte nur für ihren Mann.“